De Sade lässt seine "Helden" ihre Widerlichkeiten mit ihrer Natur begründen; sie seien so gemacht und könnten und wollten sich ihrem Naturell nicht widersetzen. Dies schrieb er zu einer Zeit, in der die Aufklärung die neue Denkweise war, der Geist steht über dem Körper und wir sind nicht an unsere Natur gebunden. Dass de Sades Werk damals eine Bombe war, ist klar - nicht nur wegen der ganzen Widerlichkeiten, die er beschreibt. Da denken die Menschen das Eine und dann kommt de Sade daher und - BOOM - sprengt mit seinem Werk diese Einstellung einfach in die Luft.
Was heute noch an seinem Werk polarisiert, sind zuerst einmal ganz klar, die ganzen Sachen, die er beschreibt. Dinge, die eigentlich zu grausam sind, um sie in Worte zu fassen, die zu grausam sind, um sie zu sehen, viel, VIEL zu grausam, um sie zu begehen - und es gibt Menschen, die daraus ihre Lust ziehen. Und hier kommt de Sade und lacht dem Leser ins Gesicht.
Denn wenn diese Dinge wirklich viel zu grausam wären, wenn sie tatsächlich unmenschlich wären, wie kommt es dann, dass Menschen sie begehen und auch Lust daraus gewinnen?
Das ist die alles entscheidende Frage, die de Sade stellt: Sind das noch Menschen oder schlummert der Sadismus in uns allen?
Es ist keine leicht zu beantwortende Frage, denn angesichts all des Leids, das Menschen anderen Menschen wissentlich und willentlich verursachen, kann man ihnen ja nicht allen den Status des Menschseins absprechen, oder? Dann heißt das im Umkehrschluss, dass jeder Mensch ein Sadist ist, jeder Mensch in der Lage ist, anderen Lebewesen unerträgliches Leid und Folter zu bereiten und sich daran zu erfreuen.
Ein erschreckender Gedanke.
Und jeder einzelne Mensch muss sich damit auseinandersetzen. Sind wir unserer Natur ergeben oder siegt die Moral?
Wenn man einem normalen, unauffälligen, nicht gewalttätigen Menschen die Möglichkeiten gäbe, zu tun, was de Sade beschreibt, würde er es tun und irgendwann vielleicht sogar genießen?
Die meisten von würden zu so einer Gelegenheit wahrscheinlich Nein sagen. Nein dazu, Frauen zu foltern, Kinder zu vergewaltigen oder Tiere bei lebendigem Leib zu zerreißen. Aber was ist mit den anderen?
Ich habe mich lange damit beschäftigt, schon vor der der halben Lektüre des Buches, und bin zu keinem Ergebnis gekommen. Es gibt zu viele Menschen, die Leid zufügen, um es als "unmenschlich" zu bezeichnen. Heißt das, wir sind alle grausam und verdienen das Leben nicht? Denn ich bin absolut und zu einhundert Prozent davon überzeugt, dass Menschen, die Schwächeren Leid antun, das Leben nicht verdienen. Wenn's nach mir ginge, sollte man Kinderschänder so lange foltern, bis sie sich den Tod wünschen. Oder Tierquäler. Oder Vergewaltiger. Oder de Sades "Helden".
Das Zweite, was mich bei der Lektüre erschreckt hat, ist die Abstumpfung, die sich langsam ausbreitet. Irgendwann wurden die ganzen "Ausschweifungen" schlicht langweilig zu lesen, es hat sich immer wiederholt. Aber, wenigstens das kann ich mir zugestehen, diese Ödnis hat sich bei mir "nur" bei den ersten Passionen ergeben, die hinteren, die ich gelesen habe, haben mich an meinem Verstand zweifeln lassen.