Berlin Alexanderplatz - alternative Handlung
Schnell sucht Franz einen ruhigen Platz in der Straßenbahn und lässt sich in den staubigen Sitz sinken. Vor ihm liest ein älterer Herr Zeitung, das Berliner Tagesblatt. Franz beugt sich vorsichtig über seine Schulter und versucht, wenigstens das Wetter für den nächsten Tag abzulesen.
Doch alles, was er erkennen kann, ist ein milchig-grauer Streifen auf dem geblichen Papier. Meine Augen sind in den letzten vier Jahren ooch nit jünger geworden. Als er sich noch weiter nach vorne beugt, dreht sich der Mann zu ihm um – jetzt erkennt Franz deutlich seine riesige Nase, die Triefaugen und das faltige Gesicht, bestimmt ein ehemaliger Bergarbeiter, für sowas hab ich einen Blick – und sieht ihn an, wie die Katze die Maus.
„Du bist neu hier, oder? Ich hab dich noch nie gesehen, dabei sitz ich jeden Tag in genau diesem Abteil. Glaub mir, ich kenne jeden der Fahrgäste in- und auswendig. Da vorne zum Beispiel, der alte Alfred. Hält sich für einen begnadeten Autor, obwohl jeder weiß, dass seine langweiligen Groschenromane kaum das Papier wert sind, auf dem sie gedruckt werden.
Oder da, das ist Elfi, die Tochter des Bruders vom Leiter des Schlachthofes. Liebes Ding, wenn ich mir sie so anseh, ähnelt sie schon sehr ihrer Mutter. Die war Baronin von so-und-so, aber eines morgens fand man sie kreidebleich und starr wie ein Stück Holz in ihrem Bett. Im Schlaf erstickt. Hinterließ zwei Kinder und einen Mann, der zu ihren Lebzeiten schon mit der Erziehung überfordert war. Er hat sich dann dem Alkohol hingegeben und ist eines nachts sturzbetrunken von einer Brücke gefallen.
Da vorne der Fahrkartenkontrolleur, das ist der Hugo, früher waren wir so. Aber seit der Hund mich damals hier rausgeworfen hat, weil ich keinen Fahrschein hatte, kann er sich sein Vergnügen sonst wo suchen.
Und siehst du da vorne den hübschen jungen Mann? Das ist Egon, „Der Starke“. So nennt man ihn. Er ist zwar erst 16, aber kann schon zupacken, wie kein Zweiter. Wenn ich ihn mal bei mir daheim brauche, ist er immer sofort zur Stelle, so lass ich mir das gefallen. Sein Vater ist Bauarbeiter und da hat er dem Sohnemann natürlich schon so einiges beigebracht.
Die da, das ist Frau Hase. Man erzählt sich, sie würde nur einen Mantel, eine Hose und ein paar Sandalen besitzen. Aus moralischer Überzeugung. Aber ich glaub, die ist, seitdem ihr Mann von hier so einer Straßenbahn überfahren worden ist, einfach ein bisschen verwirrt.
Morgens ist hier nie viel los, da sitze ich meistens ganz alleine auf meinem Platz und lese die Zeitung. Aber mittags, da füllt sich die Bahn mit Leuten und ich kenne sie alle.
Pass auf, ich zeig´s dir; der grimmige Kerl da vorne ist der Alfred. Denkt, er hätte Talent zum Schreiben, aber in Wirklichkeit hatte sich bisher nur niemand erbarmt, ihm die Wahrheit zu sagen. Und da, ein paar Plätze hinter ihm, sitzt Elfi. Ihr Vater ist schon tot, ist von ´ner Brücke gestürzt und ihre Mutter, der ist ihr Reichtum zum Verhängnis geworden. Wie das, willste wissen, mein Guter? Heh, das ist ne lustige Geschichte, laut Polizei ist die nämlich nachts erstickt, weil sie ihre Ohringe, solche 30-Zentimeter-Goldteile, in den Hals bekommen hat und keine Luft mehr bekam.
Den Fahrkartenkontrolleur, Hugo, kenne ich sogar persönlich, wir waren sehr gute Freunde. Aber irgendwann wollte der mich partout nicht ohne Fahrschein fahren lassen und hat mich dann gezwungen, auszusteigen. Seitdem existiert der Kerl nur noch in meinen Träumen.
Naja, aber sind ja zum Glück nicht alle so. Da, dieser hübsche Kerl da, Egon heißt der.
Weißt du, was der für´n Spitznamen hat? Ne, kannste ja nit wissen. „Der Starke“, so nennen die den. Is aber auch berechtigt, guck dir mal an, was der für tolle Muskeln hat, dem kann keiner was.
Aber wenn der auch mal Bauarbeiter werden will, so wie sein Vater, braucht er die ja auch, nicht?
Und da, die Hase, die alte Schrulle. Läuft seit Ewigkeiten in den Lumpen rum, die sie jetzt gerade trägt, verrückt, hä? Seitdem ihr Mann gestorben ist, wurde von so´ner Straßenbahn, wie der hier, überfahren, ist sie nicht mehr so ganz klar im Kopf.
Tja, und dann bin da noch ich. Ich sitz jetzt schon seit heute morgen, wo noch kaum jemand hier war, auf meinem Platz und les die Zeitung, so wie jeden Tag. Aber die Zeitung lese ich nur, um die Zeit zu überbrücken, bis die ganzen Leute hier reinkommen. Ich mach das jetzt schon so lange, dass ich dir zu jedem der Leute hier ´ne kleine Geschichte erzählen könnt, willste hören?
Heh, also zuerst mal ist da der Alfred.“
Heiter bis wolkig, leichter Wind aus Süd-West. Regenwahrscheinlichkeit unter fünf Prozent.
Franz hat sich inzwischen über das Wetter des nächsten Tages informiert. Ebenso über sämtliche Ereignisse, die er wert waren, auf der Titelseite abgedruckt zu werden.
Fleischpreise steigen weiter an, Höherer Wirkungsgrad bei Automobilmotoren unwahrscheinlich, Ehemann tötet seine Frau und ihre drei Kinder, Amerika will Suche nach Ölquellen fortsetzen, Kirche gegen eine zu leichtfertige Deutung des Johannes-Evangeliums, sowie die tägliche Kolumne von Joachim Wackner.
Ick brauch keen Fleisch, hab ick im Knast schon kaum gebraucht. Un watt soll ick mit´m Auto, hab ja noch nitmal en Haus. Un der Kerl da mit seiner Frau un seinen Kindern hätt’ lieber mal-
„...und ist an ihren Ohrringen erstickt, hättest du das gedacht?“ stößt die quälende Stimme der Realität durch Franz’ Gedanken.
„Und nun stell dir mal vor, den Fahrkartenkontrolleur kenn ich sogar persönlich, wir waren echt mal unzertrennlich. Hugo heißt der, aber einmal hat er mich hier rausgeworfen, weil ich keinen Fahrschein hatte, deswegen will ich nix mehr mit dem zu tun haben.“
Hilflos blickt Franz aus dem Fenster. Tempelhof sagt ein Straßenschild, was für ihn noch eine gute halbe Stunde Fahrt bedeutet.
„Aber wenn der Vater Bauarbeiter ist, darf man ihn als Sohn natürlich nicht enttäuschen, also hat der Junge angefangen, seinen Körper zu stählen, bis er zu diesem Namen gekommen ist.“
Während der Fahrt die Türen zu öffnen wäre zu riskant. Vielleicht die Notbremse...
„Noch nie hab ich die mit anderen Klamotten gesehen, gibt´s sowas?“
Nur in Notfällen ziehen, Zuwiderhandeln wird geahndet.
„Ich kauf ihr das aber nicht ab, in meinen Augen spinnt die einfach. Weißt du, was mit ihrem Mann passiert ist?“
Keine Dachluke... Kein anderer Platz mehr frei... Ist das ein Mechaniker? Der Werkzeugkiste nach, ja...
„...nie viel los. Erst so gegen Mittag steigen die ganzen Leute zu.“
So ein Schraubenschlüssel muss ja ganz schön schwer sein.
„...interessiert kein Schwein. Zum Heizen im Winter sind dem seine Bücher vielleicht noch zu gebrauchen. Hehe!“
Der Kerl pennt... Naja, auch´n Mechaniker braucht mal seine Ruhe.
„Muss schwer für die Kleine sein, so ganz ohne Mutter und Vater aufzuwachsen. Aber ihr Vater hat eh nix getaugt. War’n elender Säufer, der. Irgendwann hat er dann auch die Quittung dafür gekriegt. Willste wissen, was ich mein?“
Verdammt schwer...
„...volltrunken in den Fluss gestürzt. Ah, da der Kontrolleur, das ist der Hugo.“
Schwer genug.
Noch bevor der alte Mann in die vierte Runde seiner Erzählung gehen kann, reißt Franz die glänzende Eisenkeule aus der Kiste und schlägt blind auf die Quelle seiner Verzweiflung ein.
Es ist ein Füllhorn. Ein Füllhorn uninteressanter Geschichten und Franz muss es zum Versiegen bringen. Immer wieder schlägt er auf seinen Vordermann ein, bis die blutgetränkte Zeitung aus dessen Schoß auf den Boden gleitet und die schrecklichen Sirenen verstummen.
Stille um Franz. Langersehnte Stille. Durchbrochen nur von den herannahenden Schritten des Kontrolleurs und vom Rasseln der Handschellen.
„Hallo Hugo.“
Ende